Mein erster Eindruck: Bericht einer Anfängerin

Shin Zen Bi.

Das Wahre. Das Gute. Das Schöne. Der Weg des Bogens birgt in sich Werte, die mich in dieser lauten Welt anrührten. Eine Welt, in der man sich des Gefühls wachsender Unhöflichkeit, Respektlosigkeit, Aggression und Egozentrik irgendwie nicht mehr erwehren kann. Mein Name ist Cora und ich war einmal klassischer Bogenschütze in einem Schießverein, mit einem Schießstand, mit Zielscheiben, Ringen und Wettbewerben. War einmal, denn der Recurve Bogen liegt mit allem Zubehör bereits eine ziemlich längere Weile unangetastet im Keller. So ganz vergisst man aber nicht, was die Grundwerte ausmachten. Konzentration. Alles aus dem Kopf wegfließen lassen. Probleme, Sorgen, Entscheidungen, Fragen. Weg damit. Auf korrekte Bewegungsabläufe achten, richtig atmen und vor allem, den Pfeil richtig loslassen. Ohne das trifft man nämlich nicht. Weil mich dieser Aspekt des Loslassens immer schon am meisten interessiert hatte – weniger der Wettkampf, die Ringe, die Konkurrenz oder das Gewinnen – erinnerte ich mich an japanisches Bogenschießen. Und so stürzte ich mich auf YouTube. Und sah diese wunderbaren Filme aus dem Kyudo Dojo innerhalb des Meji Schreins. 

Die Würde. Die Eleganz. Die Gelassenheit.

Diese würdevollen Menschen, die in aller Weisheit, Eleganz, Gelassenheit und Ruhe den Pfeil auf seinen Weg loslassen. Weil er ihn selbst in das Ziel findet, wenn man ihm mit seinem Körper und seinem Geist die Möglichkeit dazu gibt. Die Stille, die sich schon alleine durch den Raum vermittelt. Die Kraft des Universums, die den Körper des Schützen in einem Fluss von Energie zu durchströmen scheint. Das war es. Das wollte ich auch. Meine ersten kleine Trippelschritte auf diesem großen Weg führten mich in eine Turnhalle. Draußen das Geschrei testosterongefüllter Jugendlicher auf dem Fußballplatz, drinnen der Geruch nach Schweiß, vermischt mit feuchtem Duschgelaerosol und eine große Halle, die mir irgendwie so alle Illusion raubte. Da stand ich nun, etwas verloren, mit einer Vogelzwille in der Hand. Jedenfalls dachte ich so. Bis ich im Internet auf Kyudo-in-Waldniel stieß. Mit Bildern, die all das repräsentierten, was ich mir unter meinem Bogenweg vorstellte. Und weil ich kein Zauderer bin, schrieb ich sofort eine Mail an den Ersten. So hieß es jedenfalls. Erster @. Für mich als deutschsozialisierte erst einmal etwas befremdlich. Die Antwort kam prompt. Freundlich, einladend und ich durfte den Verein kennenlernen, bei einem Training zuschauen und mich umsehen. 

Die Schwelle zur Erkenntnis. 

Ein kleiner Weg zwischen dunkelroten Backsteinmauen, inmitten eines kleinen Örtchens am linken Niederrhein. Am Ende eine Holztüre mit einem runden Kreis, ein Flügel offen, wie die freundliche Aufforderung mit einem Schritt 9.331 km – die Entfernung von meinem Zuhause bis zum Meji Schrein – zu überwinden. Und gleich nach dem Durchschreiten dieser magischen Schwelle fällt der Blick auf den Dojo. Mitten in einem Garten in Schwalmtal. Ein Haus aus Holz. Mit großen Glasfenstern. Mit augenscheinlich papiergefüllten Schiebetüren. Ein Raum voller stiller und klarer Schönheit. Ohne Ablenkung. Gefüllt mit der Energie von Shin. Und Zen. Und Bi. Eine Seite offen, gerichtet auf einen Teich voller Kois, umsäumt von Grün in allen Schattierungen, Windspielen, einer kleinen Brücke, Kies und Wegesteinen. Am Ende dann der Unterstand, unter dessen Dach sich die Ziele befinden. Die Matos, 36 cm kleine Pünktchen im Universum, in die sich nach 28 m die Energie des Schützen fängt. Wenn er mit Bogen und Pfeil zur Einheit werden konnte. Das war es. Und so trug ich mich gleich ein zum Anfängerkurs, der am nächsten Tag schon startete. Ich hatte Glück. 

Die Entdeckung der Entenhaftigkeit.

Wie viel Glück merkte ich von der ersten Minute an. Ein völlig konzentrierter und fokussierter und vor allem gelassener und freundlicher Lehrer. Ein Sensai. Shige. Nicht nur ein Lehrer, der all dies mit eigenen Händen erbaut hatte. Auch ein Lehrer, dem es am Herzen liegt zu erklären, warum etwas ist, wie es ist. Statt eine für Westler relativ sinnentleerte Etikette formaler Abläufe erschloss sich in diesem Kurs so viel mehr. Angefangen vom Betreten des Dojos. Warum mit diesem oder jenem Fuß zuerst. Was ist eine Sonnen- und eine Schattenseite. Was bedeutet ein zentraler Punkt in diesem Dojo, gefüllt mit einem kleinen Schrein, geweiht von einem Shinto-Priester. Was gebe ich dem Dojo an positiver Energie und Freundlichkeit und was gibt er mir zurück. Was bedeutet es, sich mit einem Bogen und einem Pfeil zu verbinden. Was bedeutet Respekt oder auch Dankbarkeit. Wie kehrt Stille in mich ein. Was bedeutet der Fluss des Atmens. Und warum ist dieses seltsame Gehmuster, das ich beim ersten Zuschauen so gar nicht verstand, nicht wirklich seltsam, sondern bedeutet die Komprimierung von Kraft und Energie im Raum, die sich wandelt in Präsenz. Dazu die gemeinsamen Vorbereitungen vor dem eigentlichen Schießen. Das Staubwedeln, den Sand vor den Matos mit einem Reisigbesen wegkehren, die Ordnung als Respekt vor dem eigentlichen Akt des Schießens einkehren zu lassen. Eine gute Ordnung, die Stille gibt und Konzentration erst wirklich möglich macht. Ohne Ablenkung. Voller Schönheit. „Ach herrlich“ dachte ich. So viel zu lernen und zu verstehen. Und dann muss man das ja alles auch selbst üben und erfahren. Das wird ja wohl nicht so schwer sein. Irgendwie waren all die Abläufe so klar und einleuchtend. Die Bewegungen im Kopf so gut nachvollziehbar. Und dann hatte ich ja auch über 10 Jahre klassisches Ballett getanzt. Ich war Bogenschütze. Nun. Als erstes sollte ich knien. Bei der Begrüßung, die mit der inneren Einkehr den Geist zur Ruhe bringt. Zu größten Überraschung meiner selbst konnte ich nicht knien. Das tat so weh, das mir fast schlecht wurde. Mein erster Gang nach der ersten Kyudo Stunde war der zum Physiotherapeuten. Seitdem übe ich knien. Irgendwann kann ich es vielleicht. Bis dahin stehe ich und lerne Bescheidenheit. Dann übten wir das Gehen. Ich schob mit all meiner Vorstellungskraft die Energie des Raumes vor mich hin, versuchte sie zu bündeln und für mich zu nutzen. Und wackelte wie eine alte Ente von Ecke zu Ecke des Dojos.  Von wegen Eleganz. Ich war so konzentriert auf die Abfolge der Schritte, die Stellung der Füße und das entsprechende Drehen des Körpers beim Richtungswechsel, das jegliche Eleganz völlig abhandenkam. Und sich auch nicht einstellen wollte. Die Füße sollen ja nicht vom Boden, was meine aber hartnäckig verweigerten. Dazu all die japanischen Worte. Ashibumi, das Stellen der Füße. Dozukuri, ich richte meinen Körper in Balance der Achsen aus. Shige hatte uns dazu ein kleines Büchlein gemailt, das ich mir ausgedruckt hatte. Und irgendwie konnte ich mir die Worte nicht merken und verwechselte immer die Buchstaben. Was dazu führte, das mich manch befremdeter Blick mit einem Fragezeichen streifte. Was ich wohl meinte… 

Uchiokoshi. 

Und dann kam das allererste Mal, wo ich einen Bogen in die Hand nehmen durfte. Dieser riesige Bogen. Zentral vor dem Körper hochheben. Drehen. Ziehen. Ich war mir bis dato nicht bewusst, wie eckig unelegant ich wirklich sein konnte. Mein Enten-Dasein schien sich zu manifestieren. Ich schoss mir vor den Unterarm, der Tage später noch in den schönsten Regenbogenfarben leuchtete. Und vors Gesicht. Meine Faszien verziehen mir die neuen Beanspruchungen nicht und antworteten mit üblen Schmerzen und ein paar Tage lief ich wie ein Fragezeichen. Dann geriet mir meine eigene Bogenvergangenheit mit verankerten Bewegungsabläufen zum Nachteil, weil meine Hand sich immer in die falsche Richtung drehte oder meine Arme die Sehne nicht parallel zogen.  Tatsächlich schaffte ich es, auf eine Entfernung von nur knapp zwei Metern einen Pfeil an einem überdimensional großen Ziel, nämlich dem Makiwara genannten Übungsstrohballen, vorbeizuschießen. Der Pfeil auf immer verloren im Schilf des Koi-Teichs. Wie peinlich. Und das erste Mal schlich sich das Verständnis in mein Herz, was denn der ältere japanische Schütze in einem Interview so bescheiden äußerte: „Ich habe jetzt 15 Jahre für den 8. Dan geübt und denke, dass ich mich jetzt für die Prüfung anmelden kann“. Der Weg des Bogens… Und ja, es ist tatsächlich ein Weg. Nichts wird so klar wie diese Erkenntnis, wenn man in aller Differenz zwischen Vorstellungskraft und tatsächlichem Bewegungsablauf steckt. Wenn der Respekt wächst in dem Verständnis um die Millionen Dinge, die hinter dem schlichten Heben des Bogens, dem Blick auf das Ziel, dem Ziehen und dem Loslassen des Pfeils stecken. 

Der Weg des Bogens.

Es ist schön, diesen Weg mit anderen gemeinsam zu gehen. In einem vereinten Wissen um Defizite. Aber auch um Lernen und Wachstum. Um ein stilles Lächeln, das sich in Augen spiegelt, wenn wieder etwas nicht gelingt. Oder aber auch wenn es gelingt. In dem Wissen, dass es gar nicht darum geht, ein Ziel zu treffen. Sondern darum, eins zu werden im energetischen Fluss des Universums. Seinen Platz zu finden. Seinen ganz eigenen Platz. Nicht für andere etwas zu tun, für andere perfekt zu sein, nicht für Statussymbole oder vordergründigen Erfolg. Vereint zu sein in einer Erkenntnis: Los zu lassen.  So ist das mit Shin, Zen und Bi. Und so war das mit meinen ersten Tagen und Gedanken beim Kyudo in Waldniel. 

(Cora Hillekamp)

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