3. Kyu Prüfung – oder die Kunst, an alles zu denken

Warum bin ich eigentlich so aufgeregt? Ich stehe an dem mit zwei Klötzen angedeuteten Eingang zum Dojo in der Sporthalle Krahnendonk in Mönchengladbach und werde jeden Moment die erste Riege Schützen zur Honza führen. Wir vier streben in der heutigen Prüfung den 3. Kyu an. Mit dabei: Meine Vereinskollegin Dagmar. Ebenso Frank, der sich in einer der später folgenden Riegen der Prüfung zum 2. Kyu stellen wird.
Ich wurde als Omae eingeteilt, da ich – mit nicht ganz einem Jahr Kyudo-Alter – die jüngste hier bin. Die Position vorn kommt mir sehr entgegen, sonst wäre ich vermutlich noch aufgeregter. Warum das so ist? Während ich auf das Kommando zum Start warte, denk’ ich darüber nach.

Ist es das Schießen? Nein, das ist es nicht. Auch nicht so sehr die Prüfung. Die Wahrheit ist – und das ist das eigentlich Unangenehme – ich kann mir die Abfolge der einzelnen Schritte und Hassetsus einfach nicht merken. Noch am Vorabend der Prüfung habe ich beim Training eine besonders „kreative“ Variation des Taihai zur Aufführung gebracht.
Um ehrlich zu sein, bin ich mit den einzelnen Hassetsus schon sehr beschäftigt. Kommen jetzt noch Schritte und Bewegungen des Taihai dazu, befinde ich mich im Grenzbereich des Machbaren. Soll ich mich in der Situation noch mit anderen Schützen und deren Bewegungen synchronisieren und das Timing halten, bin ich raus. Mir dämmert langsam, warum ich beim Kinderballett immer allein tanzen musste. Heute, als Omae, irgendwie auch und das ist vermutlich auch gut so.

Start: Es geht los. Schritt, Schritt, Verbeugung vor der Kamiza, ich zähle langsam bis acht, immer und immer wieder bis ich an der Honza ankomme.
Mit Shigeyasu Kameo, unserem Trainer, habe ich in Vorbereitung auf die Prüfung das Atmen geübt. Das klingt banal, aber es hilft. Er hat mir gezeigt, wie und wann ich bei den Hassetsus ein- und ausatmen muss, damit ich jeden einzelnen Schritt des Bewegungsablaufs konzentriert ausführen kann; ganz so, als trüge man Scheuklappen. Für mich ist das sehr wichtig.
Wie gesagt, ich kann mir die einzelnen Schritte des Taihai nur schwer merken. Diese sind mir gelegentlich so schleierhaft wie der Verbleib meines Autoschlüssels, den ich schon nach stundenlangem Suchen an Orten wie dem Gefrierfach des Kühlschranks wiedergefunden habe. Wenn man mich hingegen heute fragt, was Tante Helga Weihnachten ’96 anhatte, dann weiß ich das. Was nach Ushiokoshi kommt, leider nicht.
Daher bin ich auch so aufgeregt und mache alles viel zu schnell. Von Ashibumi bis Hanare in unter zehn Sekunden? Für mich kein Problem! Natürlich ist es eines und ich weiß, dass ich heute nur bestehen werde, wenn ich die Bewegungen sauber, der Reihe nach und langsam ausführe. Also atme ich konzentriert und bin gespannt wie der Bogen im Kai, will an alles denken, will nichts vergessen. Gelingt es mir?
„Sabine, 3. Kyu“, heißt tatsächlich nach der Prüfung bei der Bekanntgabe der Ergebnisse, ich habe es geschafft.

Dagmar und Frank haben es auch geschafft und wir drei albern nach bestandener Prüfung beschwingt auf dem Parkplatz, als unser Trainer Shige zu uns kommt und fragt: „Sabine, hast du nichts vergessen?“
„Nein“, sage ich strahlend, „heute, so hoffe ich doch, nicht!“
Verschmitzt lächelnd zieht Shige einen blauen Bogenschuh hinter seinem Rücken hervor. „Ist das nicht deiner?“ Wir müssen alle lachen.
Der Bogenschuh ist aber auch wirklich klein, den kann man in einer so großen Halle doch leicht mal übersehen… (Sabine Kückemanns)

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